Ein Wasserfall als Inspirationsquelle
Wenn das BLS-Kursschiff von Brienz aus Richtung «Giessbach See» fährt, wird der Blick frei auf ein Naturwunder erster Güte: Die Giessbach-Fälle erfreuen nicht nur Ausflügler und Touristen, sondern inspirieren auch Schriftsteller und Komponisten.
Wer mit dem BLS-Schiff von Interlaken Ost nach Brienz fährt, bemerkt vor dem Halt an der Station «Giessbach See» vor allem das auf einer künstlichen Terrasse erbaute historische Grandhotel mit seinen charakteristischen Spitztürmchen. Von den imposanten Giessbach-Fällen ist von dieser Seite nur gerade der unterste Wasserfall zu sehen. Wie spektakulär die gesamten Giessbach-Fälle sind, eröffnet sich einem erst bei einer Fahrt von Brienz aus, wenn der Kapitän einen grosszügigen Bogen fährt und die Anlegestelle «Giessbach See» fast rechtwinklig ansteuert: Über insgesamt 14 Stufen stürzt der Giessbach von den Weiden der Axalp in den Brienzersee und überwindet dabei 500 Meter Höhenunterschied. Wer die Wucht der Wassermassen erahnen will, kann sich ein paar hundert Meter vom Hotel entfernt auf einer Brücke in die Gischt stellen – ein echtes Erlebnis für viele Ausflügler und Touristen.
Dass die Wasserfälle des Giessbachs ein seltenes Spektakel bieten, war dem Brienzer Pfarrer Daniel Wyss und dem Brienzer Schulleiter Johannes Kehrli schon früh klar. Kehrli errichtete in den Zeiten des aufkommenden Fremdverkehrs zu Beginn des 19. Jahrhunderts eigenhändig einen Fussweg vom Seeufer zum zweituntersten Fall und stellte dort eine Sitzbank auf. Später war er für den Bau eines einfachen Schutzhauses, einer Gaststube und des «Gasthauses Giessbach» verantwortlich. Der Pfarrer Daniel Wyss erschloss den Zugang zu den oberen Fällen und benannte die 14 Wasserfälle nach verdienten Berner Persönlichkeiten.
«Die schöne Schifferin»
Schon damals spielte der Wasserweg eine wichtige Rolle bei der
Erschliessung des Naturwunders. Zu Beginn waren es die weitherum
bekannten Schifferinnen, die Besucherinnen und Besucher
von Brienz aus mit Ruderbooten zu den Giessbach-Fällen
beförderten. Einer von ihnen ist unter dem Titel «Elisabetha, die
schöne Schifferin vom Brienzersee» sogar ein Volkslied gewidmet.
Nach der Eröffnung der Dampfschifffahrt auf dem Brienzersee
am 15. Mai 1839 nahm der Ausflugsverkehr zu, und es kamen
nach Brienz, Giessbach und Interlaken Ost laufend weitere Anlegestellen
hinzu.
1858 übernahm die Dampfschifffahrtsgesellschaft der Gebrüder
Knechtenhofer das Grundstück mit dem Hotel und vergrösserte es. Die nächste Besitzerin, die bekannte Hotelierfamilie Hauser,
beauftragte 1870 den renommierten Architekten Horace Edouard
Davinet mit dem Neubau eines Palasthotels «à la Louvre».
1875
eröffnete es seine Türen und wurde zu einem Magneten für Adlige
aus Russland, Afrika, Indien und Europa. Auch Industrielle und
Financiers aus Deutschland und Grossgrundbesitzer aus Polen,
Ungarn und dem Balkan besuchten das Hotel an den Wasserfällen
in dieser Zeit.
Strom für Brienz
Während der Hochblüte dieser Tourismusepoche entstand 1879 auch die Standseilbahn, die Hotelgäste bequem von der Anlegestelle zum Hotel beförderte. Heute ist sie die älteste derartige Seilbahn der Schweiz und eine der ältesten Europas, die noch weitgehend im Originalzustand erhalten geblieben sind. Eine einfache Fahrt kostet fünf Franken, Kinder bis 12 Jahre sind gratis.
Die jetzige Anlegestelle «Giessbach See» entstand ebenfalls in dieser Zeit. Sie umfasste eine grosse, gedeckte Halle und einen Kiosk. Östlich davon befand sich ein Wohnhaus, in dem der Wärter lebte und Billette für die Schiffe und die Standseilbahn verkaufte. Heute steht an dieser Stelle noch immer ein Haus, das aber einem anderen Zweck dient: Es beherbergt das Kleinwasserkraftwerk Giessbach. Die Wasserkraft des Giessbachs wurde ab 1930 während 15 Jahren zur Stromversorgung beim Bau des Kraftwerks Handegg genutzt. 1949 entstand dann das neue Kraftwerk Giessbach, das 1999 nach einer Urnenabstimmung in Brienz von der Gemeinde übernommen wurde. Heute deckt das Kleinwasserkraftwerk rund 25 bis 30 Prozent des Brienzer Stromverbrauchs.
Der grosszügige Hotelpalast an den Giessbach-Fällen hat bewegte
Jahre hinter sich. 1979 schloss er seine Türen nach einigen
Krisenjahren, konnte aber dank des Engagements des Berner Burgerratspräsidenten
Rudolf von Fischer und des bekannten Umweltschützers
Franz Weber vor dem Abbruch bewahrt werden.
1983 übernahm eine Stiftung den historischen Bau und restaurierte
ihn mithilfe der Denkmalpflege. Die Arbeit lohnte sich: 2004
erhielt das Grandhotel Giessbach die Auszeichnung als «Historisches
Hotel des Jahres».
Ein magischer Ort
Der Ort beim schäumenden Wasserfall hat auch heute nichts von seiner Magie eingebüsst. Viele zeitgenössische Schriftsteller und Autorinnen verlegen die Handlung ihrer Romane an die Giessbach-Fälle. Alain Claude Sulzer schaffte 2004 mit dem Werk «Ein perfekter Kellner» den Durchbruch. Ein Grossteil der Handlung spielt im Grandhotel Giessbach. Komiker Helmi Sigg schuf mit «Sherlock Holmes und der Giessbach-Fall» sogar eine bis dahin unbekannte Story des Meisterdetektivs auf dem Weg nach Meiringen. Und auch der Krimi «Jenseits der Rache» der Thuner Autorin Esther Pauchard beginnt mit einem erholsamen Wochenende an den Giessbach-Fällen, die es sogar auf die Titelseite des Buchs geschafft haben.
Keine Frage: Die Giessbach-Fälle inspirieren heute genauso wie vor 200 Jahren. Für die Anfahrt zu diesem Naturwunder ist seit über 100 Jahren die BLS verantwortlich: Sie hat 1913 die Schifffahrt auf dem Brienzersee übernommen und betreibt mit der «Lötschberg» auch heute noch ein Dampfschiff, das Gäste seit 1914 zum berühmten Wasserfall befördert.
Text: Thorsten Kaletsch
Bilder: Anita Vozza + BLS