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Vom Zeitenwandel

Feierabendruhe herrscht, feierliche Ruhe. Sie müssen nämlich wissen: Oft ist, wer erste Klasse fährt, ein bisschen Snob. Er fühlt sich allein schon wegen des höheren Billettpreises, den er bezahlt hat, als mehrbesser. Und sieht den eigenen Status infrage gestellt, sobald jemand das Abteil betritt, der hier nicht hinzupassen scheint. Es genügt, dass ich ohne Krawatte und dafür mit einem Skateboard unterm Arm in der ersten Klasse aufkreuze – schon ernte ich missbilligende Blicke. Besonders von faltigen Damen in faltenfreien Deux pièces.

Freilich scheine umgekehrt auch ich zu glauben, einer Kaste anzugehören. Denn heute sitzt schräg vis-à-vis, ennet dem Gang, eine Jugendliche, keine zwanzig Jahre alt, vom Typus Tussi. Sehr geschminkt, sehr aufgedonnert, mit Rissen in den Jeans, so gross, dass sie die ganze Kniepartie freigeben. «Warum fährt dieses junge Ding erste Klasse?», denke ich alter Sack bei mir. Sie fingert an ihrem Handy herum – Handyhülle: blassrosa und strassversetzt –, schon ertönt in voller Lautstärke Musik. (Und, hey, wir befinden uns im Ruhewaggon!)

Mitten in die Stille: Musik. Eine geklampfte Gitarre, eine schlenkernde, greinende Stimme – was ist das denn Furchtbares? Es dauert einige Sekunden, bis ich gewahr werde: Es ist … Dylan, mein verehrter Bob Dylan. Unverkennbar. Und es dauert noch einige Sekunden länger, bis mir bewusst wird, dass diese Musik nicht von der jungen Tussi kommt, was auch überraschend gewesen wäre, sondern vom Senior in meinem Rücken. Und es ist nicht irgendein Song, sondern «The Times They Are A-Changin’». Das Lied ist älter als ich. Aber jung geblieben. Das darf meinetwegen gern ertönen, selbst im Ruhewagen.

Da hat dieser Herr, zu dem ich mich nun umgedreht und dabei festgestellt habe, dass er gegen achtzig geht, doch tatsächlich Bob Dylans Hymne über den Wandel der Zeit als Klingelton programmiert! Oder ein flinker Enkel hats für ihn getan. Oft missbraucht, der Titel, und in seiner ursprünglichen Bedeutung als Protestsong womöglich aktueller denn je.

Nobelpreisträger Dylan als Klingelton? Wenig wertschätzend, werden Sie denken. O nein, treffend! Treffend ist das. Denn allein dieser Vorgang macht das Stück zur Vorhersage, die sich selber erfüllt: Die Zeiten ändern sich. «Solangs Dylan ist», raune ich noch halblaut durch den Waggon, wir sind gerade beim zweiten Mundharmonika-Part, den Dylan so wunderbar falsch spielt, wie nur er es kann. Da geht der Alte, von mir offenbar aufgeschreckt, ran und flüstert: «Kann nicht sprechen, bin im Zug.»

Zu schade. Ich hätte den Song gern zu Ende gehört.

 

Bänz Friedli
Der Autor und Kabarettist Bänz Friedli (52) tourt mit dem Programm «Ke Witz! Bänz Friedli gewinnt Zeit» und veröffentlicht im April das Buch «Es ist verboten, übers Wasser zu gehen».

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